I. Inszeniert sehen wir die großen Gefühle der aufputschenden Freude und der niederdrückenden Trauer bei den Pokalgewinnern oder den Top-Model-Verliererinnen. Freudensprünge dort, Tränengüsse hier.

0titelblatt

Uns selbst scheint im durchschnittlichen Alltag eine gewisse Affektarmut auferlegt, sodass sich das emotionale Leben mehr und mehr nicht im Bereich der Realität, sondern in der virtuellen Welt abspielt. Wir fühlen mit den stellvertretenden Siegern und Verlieren und weinen eher bei einem rührseligen Film, als beim Tod einer Tante, eines Kollegen oder Nachbarn.

„Ich fühle mich, ich bin.“ Johann Gottfried Herder

Das Ausleben von Gefühlen in fiktiven Welten der Medien hat bei negativen Gefühlen wie Wut und Hass sicher auch sein Gutes, weil der ein oder andere Jugendliche seine Aggression dort (z.B. bei einer LAN-Party mit Ballerspielen) gefahrlos ausleben kann.

Es ist schon bemerkenswert, dass wir heute extensiv eigentlich nur noch die Gefühle von Verliebtheit, Eifersucht und Trauer „erleben“. Selbst bei einem tödlichen Unfall geht es oft primär darum, wer die Kosten trägt und was die Rechtschutzversicherung übernimmt.

Leidvolle Erfahrungen, Widerfahrnisse  –  eine Übersetzung des griechischen pathos (Leiden, Leidenschaft) – wie der Verlust eines geliebten Menschen durch Trennung oder Tod, werden immer von heftigen Gefühlen begleitet. Erst als direkt Betroffener fühlt und begreift man, was vorher dunkel und unverständlich schien.

Auf der Woge der Gefühlsstürme des seelischen Schmerzes, des Liebeskummers, der Angst, der Verzweiflung werden wir apathisch oder hyperaktiv.

Der innere Schmerz endet erst, wenn das penetrante Sicheinstellen von Gedanken, die man nicht denken will und die die Gefühle begleiten, endet. Das Seelenleid endet erst, wenn die schmerzliche Reflexion verstummt ist, die wie im Kreisel des Hamsterrades Gedanken dreht und Abschied nimmt von der Demütigung des Unvermeidlichen, und wenn aus den konkreten, unmittelbaren Gefühlen die bloße Erinnerung an das Gefühl wird.

D.h.: Zuerst ist der seelische Schmerz wahnsinnig starkes Gefühl (1), dann ist der Schmerz verarbeitende Reflexion (2) und zuletzt ist der psychische Schmerz/das Leiden nur noch Erinnerung (3).

(1) Mit der Stärke und dem „Wahnsinn“ unmittelbarer Gefühle gehen die emotionale Entäußerung (z.B. Gesichtsausdruck, Lachen, Weinen) und die Körperreaktion (z.B. erhöhte Herzfrequenz und Atmung, Schweißabsonderung) einher, die im Extrem jähzornigen Wutausbruch und Totschlag im Affekt oder Zusammenbruch, Herzinfarkt und Selbstmord bedeuten.

(2) Die Reflexion ist Wiedergewinnung des selbstbewussten Teils einer emotional betroffenen Person und (3) die spätere Erinnerung an den Gemütszustand und die damalige Gefühlslage ist Verinnerlichung einer erlebten Wirklichkeit, die einmal gefühlsmäßig stark lebendig, unmittelbar gegenwärtig und fühlbar leibhaftig war.

II. Während ich über den Unterschied zwischen länger anhaltenden Stimmungen (Gemütsverfassungen der Heiterkeit, Gereiztheit, Zufriedenheit), situativ veranlassten und stärker empfundenen Gefühlen/Affekten (Emotionen wie Freude, Sehnsucht, Trauer) und Empfindungen (Körpergefühle wie Kitzel, Hunger/Durst, Schmerz-, Temperaturempfinden) nachdenke, gehe ich bei herrlichem Sonnenschein durch den Garten und sehe in den reifenden Johannisbeeren nicht die Zumutung des Verwertens im Sinne des Einkochens der Früchte zu Gelee oder Marmelade, sondern ich sehe mit „interesselosem Wohlgefallen“ die Schönheit der roten Früchte im Komplementärkontrast zum Grün des Blattwerks und ihren Nutzen als Futter für die Vögel.

Wie steht es eigentlich neben Gefühlen wie Verliebtheit, Zorn, Trauer und Mitleid mit unserer  Ergriffenheit durch Natur und Kunstwerke?

Als Tourist wird man zu berühmten sights, zu Aussichtspunkten in der Natur geführt oder vor bedeutende Bau- oder Kunstwerke und macht womöglich die Erfahrung, dass dann nichts mit einem geschieht, sich innerlich nichts rührt. Schließlich bleibt einem nur noch übrig, ein Foto zu machen.

Was ist die Ursache für diese Unempfänglichkeit gegenüber der Anmutung des Schönen und Erhabenen in Kunst und Natur? Sind wir durch die Routine des Alltags und die im Berufsleben geforderte „Gefühlskontrolle“ so abgestumpft, dass wir – quasi mehr domestiziert als selbstdiszipliniert – nichts mehr an uns heranlassen und langfristig affektiv emotional gedämpft sind?

Lässt sich das Sichöffnen-Können und Sicheinlassen auf ästhetische Erfahrung einüben? Im Bereich der Natur- und Kunsterfahrung lässt sich zumindest der Umgang mit Atmosphären lernen, ohne dass dies gleich praktische oder biografische Folgen hätte, wie es der Fall ist, wo es um ein Sichöffnen für das Leid anderer Menschen oder um die Betroffenheit durch Ungerechtigkeit geht.

III. Die Kalenderblätter zeigen diesem Umgang mit Atmosphären, den bildnerischen Ausdruck von Gefühlen und Stimmungen.

„Zukunftsängste“ und die „Schrecken des Alltags“ werden zum Ausdruck gebracht. Traurige Stimmungen werden indirekt in den Landschaftsdarstellungen von Herbst und Winter repräsentiert, die als Jahreszeiten mit Verfall, Trauer und Tod assoziiert werden.

Auch mit der „kalten“ Farbpalette der blauen „Farbverläufe“ verbinden wir eher Niedergedrücktheit und Gefühlskälte, für die sich hier aber kontrastierend – symbolisiert als Baum oder Sonne – gewissermaßen ein „warmes“, hoffnungsvolles Feld auftut.

Auffallend ist, dass die negativen Gefühle wie Zorn und Hass keine Darstellung gefunden haben.

Hass ist in einer Gesellschaft, in der das christliche Ideal der Nächstenliebe gepredigt wird, selbstverständlich verpönt. Auch dieses Gefühl muss man erst zulassen, um es loslassen zu können, sagen aber die Psychologen und Therapeuten.

Zorn ist als Affektausdruck im bürgerlichen Leben diskreditiert. Man hat sachlich und argumentativ zu reagieren und eine Gefühlswallung mit heftiger, kämpferischer Beteiligung an einer Sache bzw. an einem Menschen zu unterdrücken. Die Gefahr ist, dass der lang gehegte Zorn dann abrupt in einer Überreaktion als Jähzorn auftritt.

Vielfältiger zur Darstellung kommen – und das ist den Themen des Lehrplans Kunst geschuldet – positive Gefühle der Sehnsucht (nach Urlaub, Ruhe, Vertrauen, Harmonie, Freiheit), der Lebensfreude (der fiktiven Naturerfahrung im geheimnisvollen Dschungel) und der Freude (an der Bewegung beim Wandern), der Zufriedenheit (im Überfluss des Schlaraffenlandes oder in geselliger Gemeinschaft) und der Abenteuerlust. In Bildern wie „Unsere Dorfkirche“ oder „Sommerwiese“ kommen ein gesundes Heimatgefühl und ein intensives Naturerleben zum Ausdruck.

Die unterschiedlichen Masken zeigen Varianten von Gesichtsausdrücken, hinter denen wir uns bzw. unsere wahren Gefühle auch verstecken können.

Vinzenz Becher

[nggallery id=15]