Seelen-Landschaften

„Den höchsten Berg dieser Gegend, den man nicht unverdient Ventosus, den Windumbrausten, nennt, habe ich am heutigen Tage bestiegen, einzig von der Begierde getrieben, diese ungewöhnliche Höhenregion mit eigenen Augen zu sehen“. Francesco Petrarca

I. In Malerei und Literatur, auch im Film und in der Werbung, erscheint die Natur oft als Spiegel der Seele. So springt in einem Werbespot ein junges verliebtes Paar ausgelassen über eine Frühlingswiese und Beerdigungsszenen im Film werden von herabfallenden Herbstblättern oder von Regenschauern begleitet. Am kinomatografischen Grab stehen die Schauspieler/innen in der Regel mit Regenschirm.

II. Wenn sich ein Schatten auf unsere Seele legt, dann sehen wir auch in der Natur erhabene Übermacht und potenzielle Bedrohung im Schleier von Grau in Grau. Statt blühende Landschaften sehen wir Wildwuchs mit „Blumen des Bösen“ und nur schönen Schein vor den Abgründen einer Fremdheit, die in innere Unruhe versetzt. Die Fremdheit der Natur erscheint dann als spiegelbildliche Umkehrung eines Bewusstseins, dass der Mensch sich selbst ein Fremdes ist. Insbesondere in existentieller Verzweiflung suchen wir verstärkt Fremdes in Vertrautes zu wandeln. So wie wir Halt bei Mitmenschen suchen, so suchen wir auch Geborgenheit in der Natur. Wir besuchen z. B. die Landesgartenschau in Hemer und erfreuen uns am bunten Blütenmeer oder wir gestalten unseren eigenen (Paradies-)Garten.

Schulkalender 2011

III. Mit dem Auftreten des Menschen als homo habilis – spätestens mit dem Auftreten des homo sapiens – gibt es keine natürliche Natur mehr. Der Mensch gestaltet die Natur in Landschaft. Wie der Mensch über eine Landschaft denkt, bestimmt mit, wie er sie wahrnimmt und dementsprechend auch gestaltet.

IV. Dem Bauern, Fischer oder Jäger ist die Aue Weidefläche, der See oder Fluss Fischgrund und der Wald Standort des Wildes oder Holzvorrat. Die Natur wird erst als (Seelen-)Landschaft erfahren, wenn die Perspektive unmittelbarer Nützlichkeit verlassen wird und der Mensch hinausgeht und die freie Natur als sie selbst aufsucht und sich ihr betrachtend hingibt.

V. Am 26. April 1336 bestieg Francesco Petrarca den provencalischen Berg Mont Ventoux. Auf den ersten Blick ist das nichts Ungewöhnliches. Aber mit Blick auf das Jahr 1336 erscheint diese Bergbesteigung als ein höchst ungewöhnliches Unternehmen. Einen hohen Berg zu besteigen, noch dazu ohne ein praktisches Ziel, nur um des Naturerlebnisses willen, war für das Mittelalter undenkbar. Petrarca sieht die Welt im Unterschied zu mittelalterlichen Vorstellungen nicht mehr als eine feindliche und für den Menschen verderbliche, die nur Durchgangsstation in eine jenseitige Welt ist, sondern sie besitzt nun in seinen Augen eine eigene Wertigkeit.

Bei Petrarca klingt eine neue Natur- und Landschaftserfahrung an, bei der sich ästhetische und kontemplative Sichtweisen miteinander verbinden. Kulturphilosophen sehen deswegen in der Besteigung des Mont Ventoux ein kulturhistorisches Schlüsselerlebnis an der Schwelle vom Mittelalter zur Neuzeit und sie lesen Petracas Schilderung als Geburtsurkunde der modernen Subjektivität.

VI. Landschaft ist die vom Menschen gestaltete und sinnlich wahrgenommene Natur. Landschaftsmalerei ist ästhetische Vergegenwärtigung von Natur, der wir im Bild betrachtend gegenübertreten.

VII. Die Bilder in diesem Kalender sind Naturentwürfe, die unterschiedliche Wahrnehmungen von Natur und Landschaft zeigen. Die Landschaftsbilder rangieren zwischen Abbild, Ideal und Illusion.

Wir finden in den Naturentwürfen Ansichten von arkadischer Unschuld (März, September), idyllische Naturschauspiele mit Licht und Schatten (Juni), rätselhafte Traumfantasien (Januar, April, August), nächtliche Schattenreiche (Titelblatt, Februar), subjektive „Beziehungslandschaften“ (Mai, Juli, November) und Objekt-Landschaften im Schuhkarton (Dezember).

VIII. Als Petraca auf dem Gipfel des Mont Ventoux ankommt, betrachtet er die Landschaft und wendet sich, angeregt durch ein zufällig aufgeschlagenes Wort aus den „Bekenntnissen“ des Augustinus, sich selber und damit dem subjekiven Blick auf die Welt zu: „Und es gehen die Menschen hin, zu bestaunen die Höhen der Berge, die ungeheuren Fluten des Meeres, die breit dahinfließenden Ströme, die Weite des Ozeans und die Bahnen der Gestirne und vergessen darüber sich selbst.“ (Augustinus: Confessiones X, 8)

Ach, könnten wir in der Selbstvergessenheit der Natur- bzw. Landschaftsbetrachtung zu uns selbst kommen! Schon mit dem Ausbau des Schienennetzes und neuerdings des World wide web (be)findet sich auch unser Ich in immer neuen (virtuellen) Landschaften.

Vinzenz Becher

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