Einblicke – Durchblicke – Ausblicke

„Augen, meine lieben Fensterlein…
Trinkt, o Augen, was die Wimper hält,
von dem gold´nen Überfluß der Welt.“
Gottfried Keller
Wir leben in einer Kultur des Sehens und sind gewissermaßen einem Visualprimat unterworfen. Eine Flut von Bildern dringt täglich auf uns ein. Wenn Gottfried Keller seine Augen metaphorisch liebkost, dann weiß er noch nichts von der medialen Überflussgesellschaft.
Im Akt der Gestaltung werden nicht nur Natureindrücke festgehalten, sondern auch diese medialen Bilder bearbeitet und neue Bilder erfunden.
Mit jedem Kalenderblatt wird jeder Betrachter andere Eindrücke und Assoziationen verbinden.
Das Titelbild, das den blauen Planeten und einen Baum in der Iris zeigt, ist im Grunde der Aufschrei und die Mahnung einer Moralistin, die den Blick für die Bewahrung der Natur schärfen will.

Titel 2012

Januar: Wir sind keine gläsernen Menschen. Wir sehen nur die Hülle der Mitmenschen. Unser Innenleben ist genauso unendlich wie der Kosmos. In der Silhouette der ersten Person sehen wir einen Naturfreund im Nadelstreifenanzug. Die zweite Person träumt wahrscheinlich von einem Bootsführerschein. Die dritte Person ist womöglich ein Handlungsreisender oder ein Urlauber, ein moderner Nomade jedenfalls.

Februar: Unser Auge sieht oft, was es sehen will. Dann täuschen wir uns selber. Was wir für wirklich halten, erweist sich als Konstruktion, die wir selbst hervorbringen. Anton Tschechows Möwe ist nicht die unsere.

März: Das Fenster ist das Auge zur Welt. Wenn die Fenster verdunkelt, die Rollläden geschlossen sind, dann ist das Hinausschauen verwehrt. Aus Hochhausfenstern haben wir einen guten Ausblick, von der Terrasse einen Rundumblick.

April: „Im Nebel ruhet noch die Welt, noch träumen Wald und Wiesen…“ Wer zählt die Bäume, Äste, Zweige und Blätter?

Mai: Der Blick durchs Schlüsselloch ist immer voyeuristisch: eine einseitige Fixierung, der Verlust des offenen Blicks. Wir sehen in diesem Kalenderbild nicht, was das Auge sieht, sondern wir sehen (voyeuristisch) dem voyeuristischen Auge bei der Arbeit zu.

Juni: Das Wesentliche eines Hauses ist der Raum, den wir möblieren und beleben. Häuser haben aber auch Fenster und Türen, die Innen und Außen verbinden. Das Kalenderbild zeigt einen Ausblick in die Landschaft vor der Haustür, die hier als ein erweitertes Wohnzimmer erscheint.

Juli: Das Rundfenster erscheint wie ein blumenbekränztes Auge, in dem sich ein Seestück spiegelt. Die Pupille hat sich in einen Schmetterling verwandelt, der aus dem Zentrum der Iris wegflattert.

August: Ein Mauerdurchblick lenkt unser Auge auf eine Oase. „Unterm Pflaster liegt der Strand.“ wird hier freiheitssymbolisch zu „Hinter Mauern liegen Oasen.“

September: Vier Schülerarbeiten sind auf diesem Kalenderblatt abgebildet. Wir sehen einen Durchblick ins Aquarium, haben einen Röntgenblick in das Innenleben einer Digitalkamera, sehen wie die Löcher in den Käse kommen. Wir schauen ins Blattwerk und uns schauen fremde Augen an.

Oktober: Das Bild zeigt Meilensteine der Eroberung des Luftraumes von den Anfängen des Fesselballons bis zur Raketentechnik der Raumfahrt. Der Blick geht zurück auf die Erde, deren Schönheit und Einzigartigkeit als Ganzes nur aus der Distanz wahrgenommen werden kann.
November: „Völlig normal!“ soll der Anblick eines Kopfes sein, der hälftig einem Roboter gleicht. Der Blick in den Spiegel kann trügerisch sein. Allein die Introspektion, der bewusste Blick ins Innere unseres Erlebens, unserer Gedanken und Gefühle, klärt das Selbstverhältnis auf.

Dezember: Wir Bildbetrachter sind außenstehende Beobachter, die hier eine Traumstadt sehen, die aber keinen Einblick in den umbauten Raum haben, in dem das soziale Leben stattfindet. Wir sehen nur die Schattenrisse von Figuren in den Rundbogenfenstern der warmen, lichtdurchfluteten Innenräume. Die Bewohner blicken hinaus auf einen mystisch blauen Abendhimmel.

Die Augen sind die Fenster des Kopfes. Sind die Augenlider geschlossen, ist es finster, der Sehvorgang unterbrochen, und wir haben weder Einblicke, noch Ausblicke oder Durchblicke.
Der bildende Künstler schließt die Augen, wenn sich die Worte in den Vordergrund drängen.

Vinzenz Becher

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