„Der Mensch hat keine Wurzeln. Hätte Gott uns verwurzelt gewollt, hätte er Bäume machen müssen. So aber gab er uns Beine, um hinzugehen und zurückzutreten.“ Kurt Flasch, In Richtung Wahrheit, München 2014, S. 49

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Wer an Bewegung denkt, der denkt zuerst an Sport und an Fitnesstraining. Beides ist unter der Maßgabe der Gesundheitsvorsorge ein Reflex auf die träge „Sesshaftigkeit“ des modernen Menschen, der mittels technischer Vehikel mehr bewegt wird als dass er sich selbst bewegt.

Darstellungen außergewöhnlich leistungsorientierter Sportaktionen finden wir auf den Kalenderblättern Januar und Dezember. Auch wir Nicht-Leistungssportler und eher unsportlichen Menschen sind im Alltag immer in Bewegung, und wenn nicht mit den Beinen von Ort zu Ort, dann vor Ort mit den Armen, Händen und den Augen. Auch unsere Gedanken sind – für andere unsichtbar – ständig in Bewegung.

Wir gehen hin in Raum und Zeit und wir treten gelegentlich zurück, um unsere Stellung in der Welt und unser Tun und Lassen zu reflektieren.

Um sich schneller fortzubewegen, nutzt der Mensch Tiere (Pferd, Esel, Kamel) und Vehikel zu Lande, zu Wasser und in der Luft, die als technische Errungenschaften erhebliche Bescheunigung in unsere Fortbewegung gebracht haben. Modelle früher Flugmaschinen finden sich auf dem Kalenderblatt November, auf einem anderen Kalenderblatt sehen wir Automobile der Gegenwart und eine Motorjacht auf der Themse bei Nacht (Oktober).

In der bildenden Kunst wird erst in der Moderne – z.B. in den kinetischen Plastiken von George Rickey, in der Maschinenkunst von Jean Tinguely oder im Lichtballett von Otto Piene – Bewegung als solche thematisiert und als reale Bewegung im Raum vorgeführt.

In den hier gezeigten Schülerarbeiten wird Bewegung bildnerisch suggeriert. Diese ist – wie schon in der mittelalterlichen Malerei oder der Skulptur des Barock – an die (statische) Darstellung einer sich in Bewegung befindlichen Gestalt, der Geste einer Person oder der ausdrucksstarken Mimik gebunden, die innere Gemütsregungen anzeigt. Beispiele hierzu finden wir auf den Kalenderblättern Februar, April und September. Gezeigt wird, was uns innerlich bewegt und was uns durch den Kopf geht (Februar).

Gezeigt werden auch politische Themen (Umweltverschmutzung, Lebensmittelskandale, Datenschutz), die uns alle bewegen (Beispiele siehe Juni und letzte Kalenderseite).

Es werden aber auch engagierte Menschen (M. Gandhi, N. Mandela, eine Friedensaktivistin) vorgestellt, die in der Welt etwas bewegt haben oder bewegen wollen.

Um faktische Bewegung (z.B. eines Tänzers, eines Trampolinspringers, eines Skifahrers, eines Wasserfalls, einer Meereswelle, eines Flügelschlags, eines Vulkanausbruchs) in einem statischen Bild oder einer Plastik sichtbar zu machen, werden Bewegungsabläufe in einer Momentaufnahme visualisiert und quasi „eingefroren“.

In dem Bild „Wasserfall“ (März) wird diese bewegungslose Darstellung von Bewegung exemplarisch demonstriert. Und wie bei Jan Vermeers Ölgemälde „Dienstmagd mit Milchkrug“ (1658-60), das (vordergründig) eine Magd beim Umfüllen von Milch zeigt, wird unser Blick auf die malerisch simulierte Fließbewegung der Flüssigkeit gelenkt.

Uns fasziniert die Gleichzeitigkeit von Ruhe und Bewegung in beiden Bildern. Letztlich geht es hier wie dort um die Sichtbarmachung des Unsichtbaren, nämlich des Fließens der Zeit.

Das moderne Leben, die Welt der fortschreitenden Technik und der Digitalisierung in Datenautobahnen wird  als Dynamik und allgegenwärtige Geschwindigkeit wahrgenommen.

„Beschleunigung“ ist das Stichwort angesichts immer schnellerer Transportmittel, kürzerer Kommunikationswege und optimierter Produktionsverfahren. Damit geht zunehmend eine Sehnsucht und Suche nach Entschleunigung einher, die Ruhe, Stille, Muße, Rückzug, Einkehr, Nachdenklichkeit oder Besinnung, Kontemplation oder Meditation erlaubt. In der Hektik des Alltags oder aufgewühlt von heftigen Gemütsbewegungen suchen wir innere Ruhe und Gelassenheit, die die Stoiker „Ataraxie“ (Gleichmut, Seelenruhe, „Meeresstille der Seele“) nannten.

Bilder der Bewegungslosigkeit, der Ruhe und Stille sind auch auf den Kalenderblättern zu finden: Hier eine Seerose (Mai), die in Claude Monets Gartenteich in Giverny blühen könnte, dort der Vogel (Juli), der sich auf einem Ast ausruht, und knorrige Bäume, die fest verwurzelt sind (August). Hier eine Kirche mit Zwiebeltürmen (Juni), die zur Besinnung und zum Gebet einlädt, und dort ein aus hellem Ton modulierter nachdenklicher Kopf (April). Bilder, die auf das gesellschaftliche und individuelle Bedürfnis nach Entschleunigung und Ruhe verweisen.

Deutlich wird das Wechselspiel von Ruhe und Bewegung, von Beschleunigung und Entschleunigung, die untrennbar zusammengehören und die, wie schon J. W. von Goethe für sich und seine Zeit reklamiert, in ein Gleichgewicht gebracht werden müssen.

Denn das Ziel kann weder ruhelose Bewegung oder entfesselte Beschleunigung, noch der Sieg der Langsamkeit im Schneckentempo (vgl. Schnecke mit Victoryzeichen, September) oder permanent bewegungslose Ruhe sein. Erstrebenswert ist allein die Balance der Zustände und Tempi.

Demgemäß ließ Goethe 1777 in der Nähe seines Gartenhauses im Ilmtal in Weimar ein steinernes Monument aufstellen, das noch heute dort steht. Bemerkenswert ist, dass fast zeitgleich (1776) in London die erste Watt´sche Dampfmaschine installiert und damit die Dynamik des Industriezeitalters in Gang gesetzt wurde, die bis in unsere Gegenwart wirkt.

Das Denkmal besteht aus zwei geometrischen Körpern: Eine Kugel ruht auf einem Würfel. Die Weimarer nennen das Monument den „Stein des guten Glücks.“ Goethe nennt es in seinem Tagebuch αγαθη τυχη (agathe tyche), die gute Fügung. “Tyche”, die griech. Göttin des Schicksals und des Zufalls (später mit der röm. Glücksgöttin Fortuna verschmolzen), ist hier jedoch nicht als Person dargestellt, sondern abstrakt als steinerne Kugel. Sie symbolisiert Labilität, die ruhelose Bewegung im Weltlauf und im Tatendrang.

Der solide Kubus verkörpert Stabilität und Beständigkeit und versinnbildlicht Ruhe, Standhaftigkeit, Unerschütterlichkeit und Gelassenheit.

Augenfällig werden die Spannung von Kugel und Würfel, der Formgegensatz von rund und eckig und die Empfindung der Ungleichzeitigkeit von Beweglichem und Ruhendem.

Wie steht es in unserem beschleunigten Leben und in unserer unruhigen Zeit mit dem dialogischen/dialektischen Ausgleich und der Harmonisierung der beiden widerstrebenden Pole Ruhe und Bewegung?

Goethe interpretierte das Denkmal vor seinem Gartenhaus als die in Stein gemeißelte Darstellung der optimalen Balance (s)eines Lebens zwischen dem ruhelosen, launischen „Glück“ (der äußeren Umstände) und der stabilisierenden Wirksamkeit und Ausgeglichenheit innerer Ruhe. Diese optimale Balance zu suchen bleibt angesichts der Dynamisierung bestehender Lebensverhältnisse und unter dem Risiko privater und beruflicher Überlastung mit der Folge der Erschöpfung, des sprichwörtlichen Burnout-Syndroms, auch der aktuelle Appell an uns Heutige.

Vinzenz Becher

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