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„Lebensträume – Lebensräume“ ist das Thema des diesjährigen Kalenders, das die Fachschaft Kunst als Motto für die Auswahl der Arbeiten der Schülerinnen und Schüler gewählt hat. Die Schreibweise „Lebens(t)räume“ auf dem Titelblatt des Kalenders ist nicht sonderlich originell, optimiert aber die grafische Gestaltung und lässt dem Titelbild mehr Platz. Wer den ein oder anderen Begriff bei Google eintippt, stößt irgendwann auf das Wortspiel, – allerdings verbunden mit teilweise fragwürdigen lebensberatenden Seiten, die noch weniger originell sind. Verfangen wir uns nicht weiter im „weltweiten Netz“, sondern folgen wir mit Blick auf die ausgewählten Kalenderblätter den eigenen Gedanken, orientiert an den zentralen Begriffen Leben, Träume, Räume.

 

Leben

Unser Leben findet an konkreten Orten statt: in den Räumen der Wohnung, im Haus, im Dorf, in der Stadt. Wir leben an vertrauten Orten (September: Heimatdorf; November: Winterlandschaft), suchen aber z.B. im Urlaub mit Entdeckerfreude auch neue, unbekannte Ort auf, die wir allerdings auch in der Fantasie bereisen können. (April: Straßenszene; Mai: Urwaldbilder). Nicht von ungefähr sprechen wir von „Traumreisen“ in ferne Länder und wir meinen damit einerseits, dass wir uns eine schöne Reise wünschen und davon träumen, und andererseits, dass es dort Sehenswürdigkeiten und z.B. traumhaft schöne Strände und Wind und hohe Wellen gibt für das Surfen bei Sonnenuntergang zwischen Delfinen (September).

Wir leben nicht nur an konkreten Orten, sondern auch in sozialen Räumen, die nicht durch Mauern oder Zäune begrenzt sind, sondern durch Regeln (Konvention, Recht, Moral) unsichtbar abgesteckt. Diese Regeln machen das zwischenmenschliche Handeln „berechenbar“ bzw. erwartbar und bieten so Sicherheit im Umgang mit Anderen. Und so sehnen wir uns nicht nur nach Urlaub und Freizeit, sondern auch nach einem friedlichen und zufriedenen (Zusammen-)Leben auf einer bewohnbaren Erde.

 

Träume

Es gibt Nachtträume und Tagträume oder Wachträume. Nur von den Letzteren ist hier die Rede. Ernst Bloch hat „Kleine Tagträume“ im ersten Kapitel seines Hauptwerkes „Prinzip Hoffnung“ thematisiert. Geschildert wird das WünschenSehnenHoffen von der Kindheit über die Jugend bis ins hohe Alter. Dieses Wünschen, Sehnen und Hoffen der Menschen finden wir in überlieferten Geschichten: In Märchen, die vom Aufstieg und vom Glück der Depravierten (der Zukurz-Gekommenen), von der Bestrafung des Bösen, von der Befreiung von der Last schwerer Arbeit im Schlaraffenland und von der Überwindung sozialer Schranken (vom Schneiderlein zum König; Titelbild, März) erzählen, und in Mythen, die u.a. Menschheitsträume (z.B. im Ikarusmythos den Traum vom Fliegen) wach gehalten haben, die bereits technische Wirklichkeit geworden sind.

Wir wünschen uns einerseits ein bequemes Leben in Luxus ohne entfremdende und überbelastende Arbeit und wir schätzen die Errungenschaften der Technik, die unser Leben erleichtert. Wir sehen aber auch die Kehrseite der Technik (auch Windräder sind nicht unbedenklich) und wünschen uns alle eine Welt, die nicht restlos ausgebeutet und zerstört wird (Oktober). Wir wissen, dass das Wünschen allein nicht hilft, gesellschaftliche Verhältnisse und Missstände zu ändern. Aber wir können aufmerksam machen z. B. auf die Gefahren der Umweltverschmutzung und an die politisch Verantwortlichen appellieren, Fehlentwicklungen zu verhindern. Dazu können Plakate und Kampagnen zum Thema „Rettet die Welt, in der wir leben!“ dienen, die im Sinne einer negativen Utopie (Dystopie) mit dem Mittel der pointierten Übertreibung warnen wollen vor Auswüchsen und schlechten Entwicklungen.

Vieles liegt nicht in der Macht des Einzelnen. Aber wir sind zumindest in Teilbereichen auch unseres Glückes Schmied. Denn es gibt Dinge, die in unserer Macht liegen und Wünsche, die wir uns erfüllen können. Der eine wünscht sich, Gitarre oder Klavier spielen zu können (Januar), der andere ein Fußballstar zu werden (April). Wieder andere – wie auf den Stillleben (Februar) verdeutlicht – suchen den Genuss eines guten (französischen) Essens mit Baguette, Weintrauben, leckerem Käse und Wein oder finden in der Stille privater Räumlichkeiten Muße beim Lesen und einer Tasse Tee.

 

Räume

In dem Kinderbuch „Oh, wie schön ist Panama“ von Janosch suchen Tiger und Bär einen „Traumort“, ein „Wolkenkuckucksheim“, ein „Nirgendwo“, einen „Nicht-Ort“, so die wörtliche Übersetzung des Wortes „Utopia“, das den Titel des Werkes von Thomas Morus bildet, in dem er einen idealen Ort des menschlichen Zusammenlebens auf einer Insel imaginiert.

Das Inselmotiv wird im Bild „Traumlandschaft“ (September) aufgegriffen. Es zeigt eine Landschaft mit fliegenden grünen Inseln. Das Paradies können wir uns auch als grüne Insel oder als Oase vorstellen, wo Mensch und Tier in Einklang mit der Natur leben.

Der Expressionist Franz Marc drückt mit seinen Bildern die Utopie einer paradiesischen Welt aus. Seine bevorzugten Motive waren Tiere als Sinnbilder von Ursprünglichkeit und Unschuld. Marc hat gewiss nie blaue Pferde gesehen. Er hat die Natur aber mit anderen Augen gesehen und die Farbe nicht als Gegenstandsfarbe, sondern als Ausdrucksmittel von Gefühlen und Stimmungen benutzt. Der Farbeinsatz in seinen Werken ist aber nicht nur expressiv, sondern auch symbolisch, da Marc eigene Farbgesetze aufstellte: „Blau ist das männliche Prinzip, herb und geistig. Gelb das weibliche Prinzip, sanft, heiter und sinnlich. Rot die Materie, brutal und schwer und stets die Farbe, die von den anderen beiden bekämpft und überwunden werden muß!“ Die Schülerarbeiten (Juli) zeigen in kreativer Auseinandersetzung mit einer Bildvorlage diese Farbverwendung und erproben durch Farbmischung ihre Wirkung.

Das Dezemberbild zeigt – statt einer paradiesischen Welt – in düsterem Schwarz eine unwirtliche, zerstörte Erde mit Ruinen und abgestorbenen Bäumen. Eine Brücke schlägt den Bogen aus dem terrestrischen Raum durch ein Loch in der erdnahen Atmosphäre in den offenen Weltraum zu fremden Galaxien und Spiralnebeln. Der Traum vom kosmischen Fliegen, vom Verlassen des (zerstörten) Planeten Erde mit einem Raumschiff gleichsam als Arche Noah wird erzählt in der SF-Literatur oder in den Filmen aus der „Traumfabrik“ in Hollywood.

In Blochs Geburtsstadt Ludwigshafen hat Max Bill das Kunstwerk „ Endlose Treppe“ errichtet, das in einer endlos gedachten Wendeltreppe das „Prinzip Hoffnung“ symbolisiert und – in der Routine des Alltags – die Idee der Möglichkeit eines Fortschritts und einer besseren Zukunft wach hält. Bei allem nüchternen Realismus ist utopisches Denken, das die Zwänge des Hier und Jetzt transzendiert, wenn es nicht glaubt gewaltsam eine Idealgesellschaft errichten zu wollen, Motor für zukunftsträchtiges Handeln, das neue Räume der gesellschaftlichen und individuellen Entfaltung (Juni: Utopische Landschaft) eröffnet.

Vinzenz Becher

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